"Europa ist heute Missionsgebiet"
- bemindfulhopelove
- 24. Mai 2021
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 4. Juli 2021

(Diese Türen waren früher, als ich Schulkind war, noch verschlossen. Heute stehen sie offen uns laden alle ein, den Garten und die schöne Aussicht zu genießen.)
Immer öfter hört man im kirchlichen Kontext, dass heute Europa Missionsgebiet sei.
Zuletzt war das zu lesen in einem Artikel auf katholisch.de
Ist diese Aussage positiv oder negativ gemeint (oder zumindest konnotiert)?
In mir löst es jedenfalls Ablehnung aus, wenn diese Aussage im Zusammenhang mit unserer europäischen/deutschen Debatte um Kirche und Gesellschaft fällt. Sollte die Kirche auf eine Gesellschaft zugehen, die in Europa/Deutschland heute anders aussieht als vor hundert Jahren? Oder lebt die heutige Gesellschaft nicht mehr die christlichen Werte und muss wieder missioniert und christianisiert werden?
Natürlich ist unbestritten, dass heute weniger Menschen in die Kirche gehen als in früheren Zeiten. Über die reine Tatsache, dass es eine entsprechende Anzahl der Kirchenaustritten gibt, müssen wir nicht debattieren.
Aber es sind nicht Tatsachen - Zahlen, Daten, Fakten - mich bei dieser Aussage beschäftigen. Es ist das Gefühl eines inneren Widerstands gegen diese Aussage aufgrund der subjektiv empfundenen Ablehnung der Kirche, sich mit heutigen Themen, mit unserer Generation, unseren Sorgen und unserem Alltag zu beschäftigen, das mich nachdenklich macht.
Tatsächlich ist der verlinkte Artikel nicht so kontrovers, wie die Überschrift suggeriert.
Dennoch ist es nicht das erste Mal, dass ich mit diesem Bild in Berührung komme, und die gefühlte Ablehnung, die in dieser Formulierung steckt, wird nicht nur mich in negativer Weise bewegen - sondern insbesondere die Menschen, die hier als zu missionieren angesehen werden.
Und doch... finde ich die Formulierung auf eine ganz eigene Weise passend. Sie löst in mir Bilder aus, die sich als Auftrag auch an die Kirche heute neu interpretieren und verstehen lassen.
Was ist Missionierung?
Erst einmal ist Missionierung die akive Verbreitung einer Botschaft. Ich muss diese Botschaft nicht aggressiv verbreiten. Diese Botschaft muss auch nicht ausschließlich von Menschen verbreitet werden, die ein Amt in einer Religionsgemeinschaft innehaben. Um es im Sinne der Predigt unseres Weihbischofs Dr. Löhr von heute wiederzugeben: in allen Gläubigen wohnt der Heilige Geist. Alle Gläubigen können ihren Glauben verkündigen: darüber sprechen, darüber schreiben, den Glauben leben. Dazu muss man nicht Theologie studiert haben. Dazu muss man nur Gott im Herzen tragen.
Es ist unser Job als Kleriker, dem allgemeinen Priestertum – den Laien – zu dienen. Die Kirche muss sich wieder darauf besinnen, dass alle Gläubigen Anteil am Priestertum haben.
(Pater Gerard Francisco Timoner, katholisch.de)
Laien in der Kirche, die Verantwortung für ihren Glauben übernehmen!
Das hat immer zwei Seiten. Laien, die Verantwortung nicht "liegen lassen" (und sich am Ende über die Institution beschweren) sollten. Die Kirche, die Verantwortung abzugeben bereit sein muss.
(Die Diskussion erinnert mich an Homeoffice und agiles Arbeiten - bei denen Führungskräfte Verantwortung abgeben und Mitarbeitern vertrauen müssen, während Strukturen und Machtverhältnisse aufgebrochen werden...)
Aber eben auch: Die Kirche, die Laien nicht für alles verantwortlich machen kann, sondern selbst aktiv werden muss.
Welche Bilder habe ich zu "Missionierung"?
Missionierung bedeutet für mich...
...Geistliche, die dort hingehen, wo die Menschen sind. Die hinausgehen in die Welt. An die Orte, an denen Menschen sind, denen sie von Jesus, von Gott, vom Glauben erzählen wollen.
Das waren früher Afrika, Südamerika, Asien.
Heute sind das: Instagram, TikTok, Pinterest. Sicherlich auch andere Orte.
Aber ich möchte diese Orte herausstellen, weil die Kirche hier vor allem eins ist: unsichtbar. Fast nicht existent. Es gibt eine Botschaft zu verkünden? An diesen Stellen ist sie fast still. Nicht meditativ still. Sondern abwesend.
Man kann dem Internet einiges vorwerfen, Verrohung vorneweg! Verbale Gewalt gegen Frauen, die in MMORPGs im TeamSpeak vor vielen Jahren schon ein Problem dargestellt hat - das heute in die Kommentarspalten großer, rennomierter Zeitungen hineingewachsen ist. Rassismus, mangelnder Respekt gegenüber anderen Mitmenschen und so weiter...
Aber bei allen Vorbehalten und Vorwürfen: das Internet wird nicht weggehen. Und es wird vor allem nicht als wesentlicher Aufenthaltsort der Generation U35 verschwinden.
Zum Hashtag #Kirche findet man auf Instagram kaum Einträge. Wenn man das mit dem #mindfulness vergleicht - ist die Kirche hier ein einsames Sandkorn auf dem Ballermann der SocialMedia-Welt. Die Bistümer, Seiten wie katholisch.de - alle auf Instagram.
Hashtags? Täglich mehrfaches Posten? Ansprechende Bilder? Botschaften, die die Menschen sofort verstehen?
Stattdessen: dieselben Bilder und Botschaften, wie sie auf allen Seiten inkl. den großen Zeitungen zu sehen sind. Bibelstellen in derselben Sprache, die die Menschen auch in der Kirche schon nicht in ihr Leben übersetzen können. Worte, die die Menschen im Herzen nicht erreichen. Lieblos. An der Zielgruppe vorbei. Man möchte empfehlen, sich die Zeit gleich zu sparen...
Man möchte: ein Fachbuch über SocialMedia kaufen und den Verwaltungen auf den Tisch werfen, damit sie zumindest einen Eindruck davon bekommen, wie diese Welt tickt. Dass es mehr Engangement braucht dort anzukommen, Fuß zu fassen - als diese halbherzigen Versuche...
(Dass sich jetzt hier jeder auf die Füße getreten fühlt... es gibt auch gute Beispiele, aber leider muss man sie schon suchen... Und natürlich weiß ich auch, dass Reichweite nicht leicht aufzubauen ist...)
Die Kirche ist im Internet da. Nicht vor Ort. Nicht angekommen, dort, wo junge Menschen sind... Wo wir sind.
Missionierung bedeutet für mich...
...Geistliche, die über das Meer fahren, durch Stürme, in Schiffen, die mitnichten jeden Geistlichen ans Ende der Welt gebracht haben werden. Im Falle "Kolumbus" dann schon, nur irgendwie auch anders als erwartet.
Auf den Weg zu den Menschen - wie viele Geistliche tun das heute schon wirklich? Ich würde das Bild gerne bemühen und beschreiben, dass einige wohl in Amerika statt in Indien angekommen sind und manche es nicht über den Ozean geschafft haben.
Aber mein Eindruck ist: viele Geistliche sind bisher auf gar kein Schiff gestiegen. Die meisten haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, ein Schiff überhaupt zu suchen.
Gut, manche sind losgefahren und haben Schiffbruch erlitten: manch eine Informationsbroschüre für Jugendliche verstaubt zu Recht in den Kirchen... Aber es reicht eben auch nicht, sich ein Fischerboot zu suchen und dann zu hoffen, dass man es damit über den Ozean schafft. (Ok, es sei denn vielleicht, man glaubt wirklich daran. Petrus konnte sogar auf dem Wasser laufen...)
Stattdessen stehen die Türen weit offen. Es kann hereinkommen, wer will!
Doch die meisten kommen nicht. Und wenn sie kommen - dann kommen sie nicht an. Sie werden nicht willkommen geheißen. Eingeführt. An die Hand genommen.
Sondern wandern allein durch ein Gebäude aus längst vergangener Zeit, ohne einen Anhaltspunkt, was sie hiermit anfangen sollen.
Oder die Türen bleiben schlicht - gleich ganz verschlossen.
Es reicht nicht, die Tür offen zu lassen und zu hoffen, dass schon jemand kommt. Ihr wollt missionieren. Ihr habt den Auftrag, den Glauben in die Welt zu tragen. Nicht, ihn in der abgesperrten Sakristei liegen zu lassen, bis der nächste Gottesdienst beginnt.
Missionierung bedeutet für mich...
...Geistliche, die die Sprache der Menschen vor Ort lernen.
Und das heißt jetzt nicht, dass Kirchenvertreter Jugendsprache lernen sollen! (Ist "YOLO" eigentlich noch aktuell...?) Es ist und bleibt peinlich, wenn man auf diese Art an andere Menschen herantreten möchte.
Aber die Kirche sollte lernen, sich im Internet zu bewegen. Zu nutzen, was in SocialMedia nicht läuft, um daraus etwas besseres zu machen!
Werdet Jesus' Influencer! Setzt euch mit den Interessen der Internetgemeinschaft auseinaner (welche Hashtags sind gerade aktuell?). Macht Stories. Nutzt Filter. Macht etwas aus eurer Botschaft! Macht eure Botschaft im Internet laut! Dass man sie nicht nur verstehen, sondern in der heutigen Zeit überhaupt hören kann...
Aus dem 16. Jahrhundert stammt auch die erste Übersetzung des Vaterunsers in die philippinische Landessprache, die lautet: "Unseren täglichen Reis gib uns heute."
(Pater Gerard Francisco Timoner, katholisch.de)
"Die Verkündigung des Glaubens!" "Das Volk Israel!" " Die Botschaft Christi!" ... Das versteht heute kein Mensch mehr, der sich nicht wenigstens ein wenig mit der Bibel und den Worten, den Geschichten darin auseinandergesetzt hat. Den Überschlag von der Person Jesus zur Botschaft Christi, von der Bedeutung des Volks Israel zu den Menschen, die heute Christen sind, und ... "Verkündigung" - steht das Wort überhaupt noch im Duden...? ... das alles kriegt heute kaum jemand intuitiv hin. Es löst deshalb auch eine Bilder, keine Empfindungen aus. Kein Zusammengehörigkeitsgefühl. Nichts davon.
Am schlimmsten finde ich die Formulierung des Schuldbekenntnisses: "Ich bekenne (...), dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe - ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken - durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld".
Diese Worte lösen bei mir persönlich keine Reflexion meines Verhaltens aus - sondern lediglich vorluthersche Assoziationen einer mittelalterlichen und selbst sündhaften Kirche...
Und da geht mir der barmherzige Gott direkt mal flöten... Das ist eine Kirche der Sünder, nicht die des liebenden, vergebenden Gottes.
Ich war heute bei einem unserer Online-Gottesdienste dabei und wurde etwas überrumpelt davon, dass der Pfarrer tatsächlich zu Beginn des Gottesdienstes genau dieses Schuldbekenntnis gesprochen hat - inklusive dem optionalen Schlagen mit der Faust auf die Brust...
In dem Moment ist mir bewusst geworden, weshalb mich dieses Bild so irritiert. Um mal ins Biblische "abzurutschen" und bewusst einen Text aus dem Matthäus-Evangelium zu wählen:
5 »Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Scheinheiligen [Anm.: in der Einheitsübersetzung heißt es hier: Heuchler]: Sie stellen sich zum Beten gerne in die Synagogen und an die Straßenecken – damit die Leute sie sehen können. (...)
6 Wenn du betest, geh in dein Zimmer und schließ die Tür. Bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist. (...)
Vermutlich ist es von vielen Christen durchaus ehrlich gemeint, auf diese Art ihre Schuld zu bekennen (auch wenn es nicht immer authentisch wirkt). Dennoch bleibt bei mir ein Nachgeschmack.
Ich persönlich mache mir tatsächlich nicht nur vorm Gottesdienst, sondern auch am Ende eines Tages Gedanken, wo ich mich nicht ok verhalten habe und was ich hätte besser machen können - wo ich "schuldig" geworden bin.
Mir ist aber nicht wichtig, dass andere sehen, wie sehr ich mich "schuldig bekenne". Ich persönlich mache das lieber im Stillen mit Gott aus. (Persönliche Gespräche mit dem Seelsorger der eigene Wahl mal ausgenommen...)
Pater Anselm Grün hat das Wort "Schuld" in einem seiner Bücher (als Synonym dafür, vom richtigen Weg abgekommen zu sein) in eine heutige Sprache übersetzt und kommt damit zumindest in meinem Herzen wieder an. Generell finde ich es richtig, sich seiner Unzulänglichkeiten auch wieder mal bewusst zu werden und sich darum zu bemühen, sich anderen gegenüber besser zu verhalten.
Natürlich hilft es genauso wenig, die christliche Botschaft bis zur Unkenntlichkeit zu profanisieren. Dennoch - eine Botschaft kann nur ankommen, wenn sie in Worten und im Herzen verstanden wird.
Missionierung bedeutet für mich...
...Geistliche, die sich mit der Kultur der anderen Welt auseinandersetzen, den Glauben vor dem Hintergrund dieser Kultur interpretieren und die "Götter" vor Ort in den christlichen Glauben integrieren.
Ich meine damit nicht, dass der Kommerz ab jetzt halt zu Weihnachten gehört. Vielleicht muss man doch nicht alle modernen Götter integrieren....
Aber moderne Götter sind heute: Sinnsuche, die Suche nach der Schönheit im Leben, Achtsamkeit, Dankbarkeit, Geborgenheit, Ratgeber zur Lebenshilfe und, ja, auch: Gesundheit nicht nur der Seele, sondern auch des Körpers.
An welcher Stelle fühlt sich hier die Kirche nicht angesprochen? Das frage ich mich immer wieder...
Warum weiß in der breiten Masse der Deutschen keiner mehr, dass Meditation zum christlichen Glauben gehört?
Warum gibt es APPs zu Dankbarkeitsübungen, während im alten Gottesloeb noch explizit das Danken als Gebetsform aufgeführt war?
Warum verkaufen sich in Deutschland Ratgeber zu Achtsamkeit wie "unser täglich Brot" beim Bäcker, während wir in Psalmen und Liedern die Schönheit von Gottes Schöpfung preisen?
Warum mahnt die Kirche zu einem respektvollen Umgang auch mit dieser Schöpfung Gottes: dem Körper des Menschen (z.B. Völlerei als Sünde), nennt gesundes Essen und Sport aber eine Ersatzreligion?
Diese Kultur, diese Götter sind seit jeher Teil des christlichen Glaubens. Das Vakuum, das hier durch Ratgeber, APPs, Blogs etc. gefüllt wird, ist durch die Abwesenheit der Kirche entstanden.
Der Wunsch nach Spiritualität ist in den Menschen heute so tief wie das vermutlich seit jeher der Fall war.
Nur die Kirche... scheint zu beleidigt zu sein, um aus diesen Göttern wieder Glauben zu machen??
Und zuletzt bedeutet Missionierung für mich auch...
...Geistliche, die geduldig und immer wieder: erzählen. Erklären. Unterrichten. Als Ansprechpartner da sind. Fragen beantworten. Geschichten erzählen. Worte auslegen, sodass sie Menschen betreffen und dass Menschen sie verstehen. Dass sie in ihrem Alltag wiederfinden.
Was war eigentlich so toll an Jesus?
Warum sind wir Schwestern und Brüder?
Was bedeutet Vertrauen? Was bedeutet Schuld? Was Herrlichkeit?
Was bedeutet z.B. Eucharistie? Und ist es wichtig, dass wir uns allen Aspekten des Christentums sicher sind - und wo heißt es: einfach zu glauben?
Auch zum Beispiel: wo ist die Bibel wahrscheinlich wörtlich zu nehmen, wo metaphorisch (und warum)? Wo fehlen uns Quellen? Welche Hintergründe gibt es zu den Texten?
Geistliche haben sich ihr Leben lang mit diesen Worten, Ritualen, Geschichten beschäftigt. Das ist ihr Zuhause, dort fühlen sie sich sicher, geborgen, wohl.
Für alle anderen ist es keine Selbstverständlichkeit, Kirche heute noch zu verstehen.
Missionierung nur als Aufgabe der Kirche?
Ein großer Teil dieser Zeilen liest sich natürlich so. Aber auch hier bin ich bei unserem Weihbischof: es sind gerade wir Laien, die den Glauben leben und weitergeben sollten.
Und gerade unsere Generation sollte sich da nicht ausnehmen: wir sind die, die in einer anderen Welt leben, deren Alltag die Kirche nicht mehr erreicht. Damit sind wir aber auch diejenigen, die beiden Seiten eine Brücke sein können. Wir können Menschen, die Halt suchen, zeigen, dass dieser in unserer ureigensten Religion tief verankert ist. Wir können dort sein und dort unseren Glauben leben, wo unsere Generation ist. Wir sollten den Mut dazu aufbringen. Und wir sollten die Verantwortung dafür übernehmen.
Und - doch, ja! - das sollte auch mit der Kirche geschehen. Damit wir auch selbst Sicherheit suchen können, wo wir die Antworten auf manche Fragen nicht sicher kennen und somit nicht sicher weitergeben können. Und auch rein praktisch, damit wir in die Kirche hinein und aus der Kirche heraus die relevanten Themen tragen und beiderseits zu Veränderungen beitragen können. Und damit wir auch die Zeit und die Freiheit für diese Veränderungen haben. Denn auch das ist Teil des Ganzen: Verkündigung, Missionierung ist keine Aufgabe mal eben für nebenher und kann nicht nur im Privaten geschehen.










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