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Was ist Liebe?

  • bemindfulhopelove
  • 18. Juli 2021
  • 9 Min. Lesezeit



Wenn mir das einer hätte erklären können, als ich 14 war und ein junger Mann meinte, ich solle die Schule abbrechen, zu ihm ziehen und wir würden uns gemeinsam ein Leben aufbauen… Tatsächlich war ich mir selten so einig mit meinen Eltern wie damals - dass ich dann doch die Schule weitermachen würde. ;)


Kugelmensch...

Ich mag das Bild, das die Philosophie vom “Kugelmenschen” zeichnet, und das vom Christentum in der Schöpfungsgeschichte aufgegriffen wurde: zwei Menschen, die zusammen jeweils die Hälfte einer Kugel bilden - die nur zu zweit komplett, vollständig, “ganz” sind.

Im Übrigen spricht der Urtext der Schöpfungsgeschichte gar nicht davon, dass Eva aus der Rippe des Adam geformt wurde. Sondern dass zuerst der Mensch (“a’dam”) geformt wurde. Aus ihm wurde dann ein Teil genommen und daraus die Frau geschaffen - dabei wurde aus dem anderen Teil gleichzeitig der Mann. Nur mal so...


Ich mag die Geschichte vom Kugelmenschen und doch… bin ich polyamor. Im höchst “moralischen” Sinne, ok...

Aber eben auch nicht in dem Sinne, dass es einen zweiten Menschen braucht, mit dem ich vollständig bin. Dass ich ohne zweiten Menschen unvollständig, “halb” bin. Oder auch, dass “ich + 2. Mensch” eine vollkommene Einheit bilden würde, die quasi ein Kosmos in sich ist. Eine abgeschlossene Einheit. Eine runde Kugel mit einer Oberflächenspannung, die nichts in diese Kugel hineinlässt, und die keine Verbindung nach draußen braucht. Eben… eine eigene, sich selbst genügende, vollkommene Welt.


Denn ich liebe viele Menschen.

Ich liebe meine Eltern, meine Schwester, meinen Neffen. Ich liebe einige wundervolle Menschen in meinem Umfeld.

Jetzt mag man einwenden: ja, das tun wir doch alle!

Ja, aber: die meisten von uns haben eben auch wenig Zeit für alle anderen, wenn sie in einer Beziehung sind, dieser isolierten Einheit.

Eine Beziehung bedeutet für die meisten Menschen, dass der Partner an erster Stelle steht. Und der Partner erwartet das auch. In manchen Beziehungen ist dennoch Raum für andere. In anderen Beziehungen wird es zum Problem, wenn man eben doch nur zwei, drei Stunden in der Woche für den Partner hat - und die restliche Zeit für andere Menschen da ist. Oder für anderes, was einem am Herzen liegt. Für Werte, die das eigene Denken und Leben bestimmen.

Wenn eigene Kinder dazukommen, wird die Zeit füreinander noch weniger. Die Zeit für die Kinder ist ja auch wichtig. Und wo 24 Stunden nicht reichen, müssen Prioritäten gesetzt werden.

Für wen ist man da? Für die Kinder. Für den Partner. Für die pflegebedürftigen Eltern? Für sich selbst…? Wo reibt man sich auf? Wo kann man noch bei sich selbst sein? Wo wird das Leben zur Last?

Zwischen all diesen Gedanken bleibt wenig Zeit für den weiteren Familienkreis, noch weniger für Freunde und für das, was uns als Person beschäftigt. Am wenigsten Zeit bleibt für Menschen, zu denen wir keine direkte Beziehung haben, die aber manchmal auch eine helfende Hand und eine Stütze brauchen. Ein Ohr, das zuhört. Einen Menschen, der da ist. Oder auch einfach jemanden, der mal was organisiert, der sich kümmert, der Aufgaben übernimmt, wo andere keine Zeit mehr auch noch dafür (!) haben. Berechtigterweise.


Ich liebe viele Menschen. Darunter sind Menschen, die mir in ganz besonderer Weise wichtig sind. Einer mehr als die anderen.


Und ich liebe nicht nur Menschen.

Mir sind meine Werte wichtig. Die Beschäftigung damit - lesend, denkend, musizierend. Mir ist mein Glaube wichtig.


Willst du wissen, von welcher Art eine Liebe ist? Sieh, wohin sie führt. (Augustinus)

Augustinus meint damit nicht die romantische Liebe.

Ich meine aber, man kann den Satz durchaus auch auf die romantische Liebe beziehen.


Doch was ist es, das Augustinus mit diesem Satz meint?

Augustinus spricht von der “unreinen” Liebe und der “heiligen” Liebe. Mit den zwei Ausdrücken macht man sich mal gleich wunderbar unbeliebt bei seinen Mitmenschen, wenn man die heute so verwendet. Denn in der Tat versteht er die Liebe zwischen zwei Menschen als unrein und die zu Gott als heilig.

Warum versuche ich mich also hier gerade unbeliebt zu machen? Weil es natürlich auch bei Augustinus über diese oberflächliche Betrachtung dieser zwei Begriffe ein Stück weit hinausgeht. Und weil sich im Leben ohnehin beides auch in guter Weise vermischen kann.


Tatsächlich hat Augustinus sicherlich Recht damit, dass eine zu starke Fixierung auf “Irdisches” und “Vergängliches” dazu führen kann, dass man irgendwie die wichtigeren Dinge im Leben übersieht.

“Irdisches” und “Vergängliches” ist ja durchaus nicht nur der Mann (tut mir Leid, das ist jetzt die weibliche Brille ;)), der uns nicht gut tut, sondern auch die Liebe zum Shopping, zur Karriere, zu ständig neuen Erlebnissen und so weiter.

Augustinus schreibt: “eine durch irdische Liebe gebundene Seele hat (...) Leim an den Flügeln; sie kann nicht fliegen”. Und das Gefühl kennen wir doch: wir sind so auf unsere Arbeit, auf den Inhalt unserer Amazon-Wunschliste und auf den nächsten Trip zum Standup Paddling oder zum Quad fahren fixiert, dass unser Leben ein Stück Leichtigkeit verliert.

Oder -um doch bei der romantischen Liebe zu landen- wir sind so auf den neuen “Traumpartner” fixiert, dass wir “die Welt um uns herum vergessen” - auch wenn der Typ besser einer zum Vergessen wäre…


Augustinus spricht davon, dass die Seele “gereinigt” werden müsse.

Das nennen wir heute: Achtsamkeitsübung. Meditation. Sich eine Auszeit nehmen.

Sich bewusst zurücknehmen, zur Ruhe kommen. Auch: reflektieren.

Damit all diese Dinge, an denen wir manchmal zu sehr kleben bleiben, irgendwie weniger wichtig werden. Und wir wieder das sehen können, was (uns) wirklich wichtig ist. Das sind zum Beispiel unsere Werte. Und die Menschen um uns herum.


Augustinus schreibt weiter:

Wohin flöge die Seele, wenn nicht zu Gott, mit Liebe als Wind unter den Flügeln?

Für mich ist es auch das: dass eben auch mein Glaube und die Liebe zu Gott das ist, wohin mein Herz fliegt, wenn es leichter wird.


Die Liebe zu Gott sei “heilig”.

Das Wort “heilig” kommt von: heil, ganz. Es bedeutet im Neuen Testament, dass man ein Leben führt, in dem man Gutes tut, für andere da ist, ... - diese Dinge eben.

Indem man Gott liebt, ist man also auch ein Mensch, der in guter Weise sein Leben führt.


Und ich meine -ob man nun an Gott glaubt oder nicht- das ist doch ein gutes Ziel für das eigene Leben. In dem Sinne ist Augustinus in jedem Fall auf das Heute übertragbar: wenn du es liebst, ein guter Mensch zu sein, dann ist das auch eine gute “Art” von Liebe.



Aber Augustinus sagt auch: es geht nicht nur um Gott.

Es gibt die “zwei Gebote der Liebe”: “zu Gott und (...) zum Nächsten”.


Was ist uns wichtig, wenn wir uns frei und leicht fühlen? Dass es anderen Menschen gut geht. Dass wir alle uns geborgen fühlen. Dass wir gesund sind. Glücklich. Zufrieden. Nicht einsam. ...



Kleiner Einschub...

...ich habe diese ganzen alten Geschichten (ob christlichen und/oder philosophisch) ein Stück lieben gelernt, weil man merkt: vor hunderten oder tausenden von Jahren lebten Menschen wie du und ich. Sie hatten im Kern manchmal sehr ähnliche (oder dieselben) Probleme. Sie haben nach Zuwendung gesucht. Nach Lösungen. Oder wollten sich einfach mal ausk*tzen… Manchmal haben sie Antworten gefunden, die uns heute noch ansprechen: momentan liest man überall davon, wie man “stoisch” mit der Pandemie umgehen lernen kann - die Stoa ist eine alte griechische Philosophie. Und manchmal regt es eben auch einfach ein bisschen das eigene Köpfchen an… Wäre das eine Idee für mich? Oder würde ich es eben gerade anders machen?...



Genug augustinische Meinung...

Willst du wissen, von welcher Art eine Liebe ist? Sieh, wohin sie führt. (Augustinus)

Ich finde, das gilt für jede Liebe. Wenn wir in die Zukunft schauen: Wo wird uns diese Beziehung, diese Liebe hinführen? Ist das gut für mich? Ist das das Leben, das ich leben möchte? Ist dieser Mensch gut für mich?

Ich gebe zu, manchmal wüsste man das gerne vorher - kann es aber nicht sehen.

Und manchmal verschließen wir auch die Augen vor der Wahrheit. Oder hoffen vielleicht darauf, den Weg ändern zu können, den wir gemeinsam vor uns sehen.


Und dann wieder… sehen wir vielleicht einen Weg vor uns, der anders verläuft, als wir uns das eigentlich vorgestellt haben. Aber es ist ein guter Weg. Und er führt zu einem guten Ziel, mit dem wir vielleicht sogar glücklicher werden, als wir es mit unserem eigentlich Ziel geworden wären.


Wer weiß. Ich bin zu alt, um da mit voller Naivität ranzugehen. :-D Aber trotzdem lässt einen eine gewissen Offenheit doch auch immer wieder überraschend gute Erfahrungen machen.


“Heilige” Liebe zu Gott und “unreine” Liebe zu Menschen?

Ich möchte Augustinus gerne ergänzen.

Meine Erfahrung ist, dass beide Lieben einander bedingen und in positiver Weise lenken können.


Die Liebe zu Gott macht es mir leichter, Menschen zu vertrauen. Und wir müssen wohl nicht diskutieren, dass das eine wesentliche Grundlage der Liebe ist. ;) Egal zu welchem Menschen und in welcher Art.

Die Liebe zu Gott kann uns auch das Vertrauen schenken, dass er uns auf den richtigen Wegen führen wird. Dass er möchte, dass es uns gut geht. Dass unser Leben gut wird. Nur vielleicht eben auf andere Art, als wir uns das vorgestellt haben. Aber trotzdem auf eine gute Weise.

Ich gebe mich jetzt mal komplett freakig: Ich hab es getan! Ich hatte einen Moment, in dem ich mir nicht sicher war, wie es an einer solchen Stelle weitergehen sollte. Ich habe dafür gebetet. Stundenlang, um wirklich ehrlich zu sein… Für die Frage: Was ist der richtige Weg? Und für das Vertrauen, dass der gewählte Weg dann auch der richtige ist.

...Auch wenn ich das echt anders gemacht hätte... Ich hatte mir fest vorgenommen, es anders zu machen!

Aber das Ergebnis war ein gutes. :)


Gleichzeitig kann die (nicht nur: romantische, auch die freundschaftliche) Liebe zu manchen Menschen auch eine sein, die uns auf dem Weg zur Liebe zu Gott begleiten und stützen kann. Die uns bestätigen kann. Die uns helfen kann, wenn wir unsere Schritte und den Weg vor uns nicht sehen können.


Von daher: lieber Augustinus, so schlimm muss romantische Liebe nicht sein. ;)


Beziehungsloser Raum...

Es gibt einen Menschen, der mir ein Stückchen wichtiger ist als andere. Mit dem ich gerne Zeit verbringe.


Und es gibt meine Ex-Beziehung(en). In der/denen eben der Partner zentral war. Es gibt die Familien um mich herum. In allen Fällen sehe ich oder habe ich gesehen, wie wenig Zeit für andere bleibt. Auch: wie hoch oft die Ansprüche sind, dass man nur (!) oder wenigstens: vor allem für den Partner da ist.


Mir hat das den Raum genommen: um für meine Eltern da zu sein. Für meine Schwester und meinen Neffen. Für Freunde, die mich brauchten. Auch für Kollegen, die Unterstützung nötig hatten. Für eine Gemeinde. Für zufällige Begegnungen, die jemanden gebraucht hätten.

Selbst für die Beschäftigung mit geisteswissenschaftlichen Themen zum Beispiel. Für die Musik. Für so vieles!


Keinen Partner zu haben, gibt mir Raum.


Nicht nur für mein eigenes, egoistisches Leben. Das ist doch häufig das Bild, das man von außen hat: ein Single möchte ungebunden sein. Frei. Tun und lassen können, was er möchte. Singles können Zusammenleben nicht aushalten. Sind weniger kompromissbereit. Drehen sich nur um sich selbst.


Keinen Partner zu haben, gibt mir Raum, um zu beten. Um Bücher zu lesen. Um vorzubereiten, wenn ich singe. Die Texte zu lernen. Sie zu verstehen. Ihre Bedeutung zu transportieren. Die Musik zu lernen und zu interpretieren. Auch: um meine Stimme gepflegt und trainiert zu halten (das passiert nicht von selbst!). In diese Vorbereitungen fließen manchmal viele Stunden, je nachdem, wie neu ein Stück für mich ist.

Es gibt mir Raum für alle meine Mitmenschen. Auch die, die ich nicht direkt im Fokus habe und die trotzdem mal ein offenes Ohr brauchen - und deren Umfeld zu eingebunden ist, um es ihnen zu schenken.


Es gibt mir auch Raum für rein praktische Dinge, wie -ja auch das- Salate für Feiern vorzubereiten, Veranstaltungen zu planen und zu organisieren, jemanden mal irgendwohin zu fahren. Und es gibt mir Nerv, Kinderbetreuungen zu übernehmen, wenn eine Mutter ein paar Minuten (oder mehrere Stunden :-D) Ruhe braucht. Und Zeit, um zwei Wochen mit meinem Vater in den Urlaub zu fahren - der sich sehr darüber freut. Oder um Corona-Infos zu lesen, für die andere keine Zeit haben - und dann anderen diese Infos zusammenzufassen. Es sind manchmal wirklich sehr praktische Aspekte. ;)


Und es gibt mir Raum, mich mit sowas wie diesem Text von Augustinus zu beschäftigen. Oder mit Gregorianik (ich liebe Gregorianik!). Der Mensch braucht mehr als nur Luft, Liebe und Mittagessen. Bei mir ist es eben auch Beschäftigung für den Kopf. Mir ist dieser Raum sehr wichtig. Wichtiger auch als die Zuwendung, die ein einzelner Mensch in der Regel in einer Beziehung erwartet - und von einem Partner ja vielleicht auch erwarteten darf. Für all die anderen Menschen und all den Mehrwert, den ich gerade deshalb habe und für andere bedeuten kann.


Was ist Liebe?

Liebe ist mehr als nur die romantische Liebe. Oder die Liebe zu Familie und Freunden. Oder die Liebe zu Gott.


Liebe hat mehr Facetten und auch mehr Bedeutungen, als wir meist im Kopf haben.


Romantische Liebe verleimt nicht nur. Sie beflügelt auch.


Liebe lässt uns für andere da sein. Liebe kann Stütze sein und Wegweiser. Liebe hilft uns, uns auf das Wesentliche zu besinnen.

Und uns zu besinnen, lässt uns unsere Liebe zu manchem neu entdecken oder vertiefen.


Liebe ist vielfältiger als nur die Liebe zu einem Menschen. Man kann die Liebe zu einem Menschen zurückstellen für die Liebe zu vielen Menschen.

Allein zu sein, kann Liebe sein.


Wir sollten offener für solche Aspekte der Liebe sein, die uns nicht sofort offensichtlich sind.



In dem Sinne - eine gute und liebevolle kommende Woche!



(Quelle zu Augustinus: Sancti Augustini Enarrationes in Psalmos)

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